Nach dem II. Weltkrieg

Idstein hat, so sieht es im Licht von 60 Jahren Abstand zu den Erfahrungen der gesamten deutschen Zivilbevölkerung während der letzten Kriegstage (Dresden!) aus, hat so gut wie nichts “abbekommen”!
Dennoch gibt es eine Fülle von Ereignissen in diesem Provinzwinkel, von denen einige geschildert werden. Für Ausführlichkeit steht hier das Buch des verstorbenen Journalisten Gerd Hermann Boettger “Schicksalsjahr 1945 in Idstein”, Hamburg 1995.Völlig untypisch für diese Webpräsenz, haben wir für diesen Zeitraum unmittelbar nach dem II. Weltkrieg kaum Fotografien, da die einmarschierenden US-Amerikaner sofort befahlen, alle Waffen und Fotoapparate abzuliefern. Auf dem Foto unten (Luftbild eines US-Aufklärers vom 14. Februar 1945) sind Bombentrichter zu sehen, doch dürften dies Notabwürfe eines Bombers gewesen sein, der seine Fracht über dem Bahnknotenpunkt Niedernhausen nicht los wurde. Weitere Bomben fielen lediglich in der Friedenstraße und nahe der Ziegelei Kappus. Auf einer amerikanischen Webseite sieht das denn so aus:
THURSDAY, 20 JULY 1944… EUROPEAN THEATER OF OPERATIONS (ETO) STRATEGIC OPERATIONS (Eighth Air Force): Mission 484: 1,172 bombers and 542 fighters are dispatched to hit oil and industrial targets in C Germany; 19 bombers and 8 fighters are lost…3. Of 460 B-24s, 123 hit Erfurt Nord and 11 hit Erfurt/Bindersleben Airfields; 80 hit Schmalkalden; 72 hit Gotha; 24 hit Freiburg, 18 hit Fulda, 12 hit Idstein, Übersetzung


Blickrichtung der Luftaufnahme: oben ist Südosten; das eingekreiste Gebäude ist die heute nicht mehr vorhandene Ziegelhütte.
Zur Einordnung unten ein Ausschnitt aus der Kreiskarte von 1934.
Die Bezeichnung “R. T.” am Kartenrand weist auf einen Römerturm im Gerloh hin.
Der Hang mit Bombentrichtern ist auf einer neuesten Karte als “Streuobstwiese” vermerkt!

Nördlich der Ziegelhütte gab es einen Absturz einer deutschen Jagdmaschine, Ende eines Luftkampfs, bei dem ein deutscher Pilot sich per Fallschirm retten konnte.
Tiefflieger machten den Bauern und sichtbaren Zivilisten das Leben schwer. Aus dem Raum Idstein-Kern kennen wir nur den Bericht des Zeitzeugen Karlheinz Striffler, der angibt, als Kind auf dem Fahrrad auf der Escher Straße von einem Jagdbomber beschossen worden zu sein, zum Glück erfolglos!
In die einzige Kampfhandlung der letzten Kriegstage war die “Heckenmühle” (siehe Karte links, am oberen Rand) bedauerlicherweise verwickelt.
Wir geben hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin Frau Gerlinde Ohlenmacher geb. Koch den Artikel wieder, der 1955 im Heimatjahrbuch des Untertaunuskreises erschien:

Von der Jugend, für die Jugend

Wie unsere Heckenmühle ein Opfer des Krieges wurde
Schülerin Gerlinde Koch, Heckenmühle, Wörsdorf

“Am 26. März 1945 richteten unsere Soldaten in unserem Wohnhaus einen Kompaniegefechtsstand ein. Die einzelnen Gruppen verschanzten sich bei unserem Gehöft in Feld und Wiesen. Ein schweres MG. nahm Stellung im “Steinchen” (einem nahen Wäldchen, pf), von wo aus die Soldaten die Autobahn übersehen und die ankommenden Gegner unter Feuer nehmen konnten.
Es dauerte nicht lange, und das Feuer wurde von der Autobahn her erwidert. Wir alle saßen im Keller. Mein Vater, der ab und zu nach dem Rechten sehen wollte, hörte die Kugeln pfeifen.
So ging es einige Stunden, bis die Nacht hereinbrach. Nach Rücksprache mit dem Kompaniechef stellten wir fest, daß wir uns in einer gefährlichen Lage befanden. Um 12 Uhr nachts brachte ein Fuhrwerk aus Idstein für unsere Soldaten Munition. Die Fuhrleute berichteten, daß in Idstein einige tausend Mann SS mit schweren Waffen aufgefahren seien. Damit sollte am nächsten Tag die Stadt verteidigt werden.

Heckenmühle 2004

Wir sahen uns jetzt immer mehr in Gefahr und wußten weder ein noch aus. Da wir keinen bombensicheren Bunker hatten und mit einem Fliegerangriff am nächsten Tag rechnen mußten entschlossen sich meine Eltern, sobald wie möglich aus der Gefahrenzone zu entfliehen, um unser Leben zu retten. Aber wohin? Wörsdorf hatten die Amerikaner schon am vergangenen Tag besetzt. Wir entschlossen uns kurz, spannten unsere Pferde ein und luden das Notwendigste auf den Wagen.
Um halb zwei Uhr nachts fuhren wir über Idstein und Dasbach unter Granatfeuer nach Oberseelbach zu unseren Verwandten mit dem Gedanken, am nächsten Tag wieder nach Hause zurückzukehren.Aber es kam anders.

Heckenmüller Egon Koch, der Bruder der Autorin

Am 28. März, mittags um halb zwölf Uhr beikamen wir durch Zivilwanderer die schreckliche Nachricht, daß unser Wohnhaus durch Kampfhandlungen völlig niedergebrannt. sei. Wir konnten es nicht fassen, daß wir unser Haus nicht mehr wiedersehen sollten mit allem, was darin war. Einige Verwandte und Bekannte aus Idstein, welche erfahren hatten, daß wir nicht zu Hause seien, fütterten morgens und abends in der Stunde, in der die Zivilbevölkerung sich von ihrer Behausung entfernen durfte, unser Vieh.

Erst nach acht Tagen konnten wir wieder mit Müh und Not mit unserem Gespann zurück. Mit großem Entsetzen fanden wir da, wo früher unser Haus stand, einen Trümmerhaufen vor. Die Pferde stellten wir in den Schweinestall. Wir selbst richteten uns Waschküche und Pferdestall zur Unterkunft ein. Später bauten wir dann mit viel Sorgen und Mühe eine Wohnbaracke, die wir ihn August 1945 bezogen. Nach mühevoller Arbeit konnten wir im Juni 1947 in unser neuerrichtetes Wohnhaus einziehen. Am 28. August 1947, nachmittags 3 Uhr, lief zum ersten Male unsere neue Mühle.”

Jetzt – fast exakt 60 Jahre später – fällt es schwer, sich dieses Wirrwarr in der Karwoche 1945 vorzustellen. Der “Volkssturm 3” des östlichen Untertaunus wurde aufgerufen und bewaffnet. Der Volkssturm bestand aus 50- bis 60jährigen (sogar ein 65jähriger war dabei!) und Jungens von etwa 16, 17 Jahren!!
Diese letzte Aufgebot lief nach dem Bau einer Sperre (Gräben an der Escher Straße im Tiergarten) einfach auseinander.
Die Waffen-SS stand noch mit einem Panzer am Rathaus, verschwand aber auch in Richtung Osten. Auf einer privaten deutschen Webseite heißt das so:
“Die restliche Division (6. SS-Gebirgsdivision “Nord”) wird bei Brodenbach an der Mosel eingesetzt. Rückzug zum Rhein. Einsatz in der Rheinstellung danach Rückzug in den Raum Idstein durch den Taunus bis nach Friedberg in den Büdinger Wald. Hier wird die Division aufgelöst und die Reste kommen in amerikanische Gefangenschaft.”

Diese Tage des radikalen Wechsels brachten Männer hervor, die uneigennützig, voller Mut und vom Tod bedroht herausragende Taten für die Bevölkerung leisteten.
Georg Grandpierre fuhr zweimal durch die bereits auf der Autobahn bestehende “feindliche Linie” nach Görsroth (!!!), das erste Mal, um den dort stehenden Fahnenjunkern aus Weilburg einen Einsatzbefehl zu überbringen. Darin stand, dass man den Panzervormarsch an der Autobahn zu unterbinden habe. Glücklich wieder zuhaus’ angekommen, erfuhr Grandpierre, dass Idstein zur Lazarettstadt  sei. Noch einmal wagte “Schorsch” den Weg nach Görsroth, um die Soldaten vom widerrufenen Einsatzbefehl zu unterrichten. Die Fahnenjunkereinheit zog daraufhin ab. Eine Lazarettstadt war “offen”, das heißt, sie durfte nicht verteidigt werden. Tatsächlich waren die Räume des Schlosses mit Verwundeten vollgestopft, ebenso waren Bauschule, Realschule, Winterschule und Kalmenhof belegt worden.
Albert Kaus hing ein weißes Bettlaken (ein vom Talwirt Guckes gestiftetes Bettlaken) aus dem Turmfenster des Hexenturms, obwohl vom Tiergarten her noch Befehle der Volkssturmoffiziere zu hören waren. Bis zum Schluss Hitlertreue holten den Mann vom Turm herunter, fesselten ihn und ließen ihn in einem Militärwagen zu einem Standgericht (und damit zum Erschiessen) nach Heftrich fahren. Der dortige Offizier bewies ebenfalls Mut und ließ den gefangenen Idsteiner frei.
Der Arzt Dr. Cohaus ging mit Albert Kaus und Adolf Hoeffner, einem Evakuierten aus Frankfurt, in Richtung Oberauroff den heranrollenden Amerikanern entgegen, um diesen die Übergabe der Stadt anzubieten und sich für die Friedfertigkeit der Zivilisten zu verbürgen. Auf dem ersten Panzer stehend (als Kugelfang!) begleiteten die Unterhändler die Einmarschierenden, um die Bevölkerung zu beruhigen.
Am 29./30. mußten Bahnhofstraße und Wiesbadener Straße geräumt werden, um Unterkunft für die Soldaten zu schaffen. Binnen einer Stunde sollte die Räumung geschehen, die Möbel hatten zu verbleiben. Die “Besatzer” sahen das so:
“May 11 1945
Poltack and me were the advance party that came to the town of Idstein. We were sent here to find buildings for the company to live in. We picked out the nicest buildings in town and we took them over and kicked out the civilians. Believe me I really enjoyed kicking these civilians out. The Burgermeister ofthe town invited Poltack and me to have a delicious supper. We had a delicious steak and French fried potatoes at his expense. We have movies or shows here almost every night. We have a nice big swimming pool that we use during the day. We sleep in a nice soft beds and really have the life out here.We do a little training during the day, but we don’t mind it as long as we are not on the line and a little training can’t hurt us.We have a nice radio in the house and have a nice comfortable life. Right now we are waiting for them to tell us what we will do now that the war is over. Until they tell us it seems we will just sit around and take life easy.
Well now the story is up to the present time.Hope you like it. Everything I said in this story is true and nothing has been made up to make it sound good. I will try to keep notes on what happens to me from now on and I will continue the story.
P.F.C. Frank Portner 42134969 Co. K, 274th Infantry, 70th Division” (Übersetzung)

Das oben geschilderte “Süße Leben” traf nicht auf alle Soldaten zu. Die 770. Ordnance Company (Instandsetzungseinheit der 70. Infanteriedivision “Trailblazers” der 3. US-Armee), die die dort stationierte Pioniereinheit ablöste, war mit der Kasernenanlage, nach dem I. Weltkrieg für die Franzosen gebaut, nicht zufrieden.
links: Standortkommandatur in der Bahnhofstraße; unten: eine Hängebrücke über die Lahn bei Diez, von “Idsteiner” US-Pionieren gebaut; davor das Abzeichen “Flaming Bomb” der Instandsetzungskompanie gleichen Namens.

Die Idsteiner berührte das wenig. Sie hatten sich wegen möglicher Nazitätigkeiten zu verantworten, vor allem aber um das Überleben zu kämpfen (Abbildungen)! Die Hilfe bei der Ernährung durch “CARE”-Pakete reichte nicht aus, auch die eingeführte Schulspeisung linderte die Not nur. Man mußte “Schrotteln”.

Der Hunger bestimmt Denken und Handeln der Menschen in den Nachkriegsjahren. Die auf  Lebensmittelkarten zu kaufende Nahrung reicht bei weitem nicht aus, nur Tausch- und “Kompensationsgeschäfte” können das Überleben sichern. Massenhaft begeben sich die Städter aufs Land, denn hier ist die Versorgungslage weitaus besser. Wer nichts zu “Verhamstern” (oder “Schrotteln”) hat, sei es durch Ausbombung oder Flucht und Vertreibung, steht schlecht da.
In seiner Silvesterpredigt, im Notwinter 1946 milderte der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings, das christliche Gebot. “Du sollst nicht stehlen!” etwas ab. Lebensnotwendiges zu nehmen, wenn es weder durch Arbeit noch durch Bitten zu bekommen sei, erklärt er für erlaubt. “Fringsen” wird zum geflügelten Wort.       

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gab aber noch mehr fremde Soldaten in Idstein. Das waren die Kranken und Verwundeten, die in allen größeren Räumlichkeiten untergebracht waren. Eine von den Kranken des “Deutschen Gefangenen=Lazaretts I” im Kalmenhof ( vorher “Reserve – Lazarett I Idstein”) herausgebrachte Broschüre vom März 1945 bringt die Lage auf den Punkt:

US-Soldaten auf dem Weg zur Kaserne in der Limburger Straße.
Im Hintergrund links die Lederfabrik Pfaff.