Anfänge des Frauenturnens

Die erste Frauenturnabteilung wird 1899 gegründet.
Auslöser war das Wiesbadener Kreisturnfest im Sommer 1899, das Idsteiner Besucherinnen begeisterte. Der Vorsitzende Christian Dietrich unterstützt die Bestrebungen. Es erscheint eine Anzeige:

Diejenigen Damen, welche gesonnen sind, der zu gründenden Damenturnabteilung beizutreten, werden behufs Constituierung derselben auf Mittwoch, den 27. in das Local des Herrn Chr. Dietrich höflichst eingeladen.

25 Damen erschienen damals und beschließen unter der Leitung Dietrichs, eine “Damen -Turnabteilung des hiesigen Turnvereins” zu gründen.
Der Vorstand mit Frau A. Dietrich, Frl. M. Michel, Frl. J. Dauster und zwei weiteren Turnern erstellt die Satzung, deren erster Paragraph lautet:

Das Damenturnen bezweckt durch wohlgeordnete Turnübungen den Körper kräftig und gewandt zu machen, den Geist zu erfrischen, Frohsinn zu wirken und zu mehren.

Die erste Übungsstunde findet am 4.Oktober 1899 mit 32 Frauen statt. Christian Dietrich spricht den Wunsch aus, dass der “gute Geist, der die zum Damenturnen Angetretenen beseele, auch anhalte.
Jedoch: Das so groß Begonnene “versickert” ohne Spur; keiner weiß, wann die letzte Turnstunde war.

1907 wird dann die Basis für einen dauerhaften Betrieb des Damenturnens gelegt. Lilli Junior schreibt:

1907, am ersten Mittwoch nach Ostern – ich glaube, es war am 4. April, standen vorerst sieben Turnerinnen bei ihrem Turnwart Schneider in der Halle, um nun aus dem Kinderturnen eine Turnerinnenabteilung zu gründen.
Mit Stolz und Unternehmungsgeist war dies für uns eine schon lang beschlossenen Sache…
Die Turnstunde begann um 1/2 9 Uhr und pünktlich um 10 Uhr war Schluss. Es war eine fröhliche und ausgelassenen Gesellschaft…
….alle Übungen, war es am Pferd, am Barren, am Reck, an den Ringen, Bock mit oder ohne Sprungbrett oder Rundlauf, wurden von uns mit Begeisterung nachgemacht.
Es war die Stunde, wo wir uns nach Herzenslust austoben konnten.
Aber wehe dem, der nicht seine ganze Kraft in Haltung und Ausführung einsetzte, dann gab es Üben und nochmals Üben bis die Knie zitterten.
Doch hätte damals niemand von uns gemeckert oder wäre fortgegangen – bei uns herrschte strenge Disziplin.
Nach der Turnstunde begleitete uns unser Wilhelm Schneider nach Hause, damit wir nur nicht mit einem Bauschüler gesehen wurden, denn sowas passte nicht zum Turnkleid.


Ein Brief, der 1909 an alle Frauenabteilungen des IX. Kreises (Mittelrhein) geschrieben, zeigt noch einmal die damalige Situation des Frauenturnens:

Auch die Frauen und Jungfrauen lernen immer mehr den Wert geregelter turnerischer Übungen erkennen und in einer ganzen Anzahl Frauenabteilungen wird fleißig geturnt und gespielt. So hat das Turnen der Frauen einen erfreulichen Aufschwung genommen, turnen doch heute bereits in unserem Kreise in 65 Vereinen insgesamt 2400 Frauen“.

In dem Brief werden weiter die Turnerinnen aufgerufen, für einen Fond des Mittelrheinkreises zu spenden, der der Ausbildung von Übungsleiterinnen und -leitern des Frauenturnens zugute kommen soll.
Unterschrieben haben: Luise Frey, Mainz, Dora Jäger, Hanau, L. Schill, Osthofen, Clara Schmuck, Darmstadt und für den Verband der Frauenabteilungen Frankfurts Professor Georg Bender als Gauvertreter.

1911 wird in Idstein der erste Frauenturntag des Mittelrheinkreises abgehalten, zu dem sich bereits Vertreterinnen aus 40 Vereinen zum Erfahrungsaustausch trafen.

L. Junior weiter:
“…Um nun auf das Turnen zurückzukommen – Es war damals mehr vom Männerturnen abgeleitet: Die Übungen ziemlich straff, ohne fließende Bewegung und Eleganz.
Nach dem I. Weltkrieg, um 1919, tritt in unserem Frauenturnen eine Wendung ein.
Turnlehrer Poller/Saarbrücken und Turnlehrer Friede/Frankfurt haben in einem besonderen Lehrgang, der in Wiesbaden abgehalten wurde und den ich durch Fürsprache durch Oberturnwart Fritz Engel mitmachen konnte, eine neue Richtlinie geschaffen – es war dies die rhythmisch-ästhetische Form, die damals herauskam.
So entwickelte sich das Turnen mit Tanz und Spiel zu einem schönen Gesamtbild
.”

Die 50-Jahrfeier der Frauenabteilung wird am 26. Oktober 1957 gefeiert, gleichzeitig werden — erstmalig in der Vereinsgeschichte – drei Frauen zum Ehrenmitglied ernannt: Die drei noch lebenden Mitbegründerinnen der Frauenabteilung, Elisabeth Faust, geb. Reichert, Johanna Neitzer, geb. Lenz und Lilli Reuter, geb. Dietrich.


Einige Daten zum Thema Frauen und Frauenturnen:

1808 Auch “Personen des weiblichen Geschlechts” können nach preußischer Staatsordnung das Bürgerrecht erlangen.

1848 Bei der Nationalversammlung in der Paulskirche sind keine Frauen vertreten. Sie sind auch nicht wahlberechtigt.

1848/48 In Leipzig wird ein Frauenturnverein mit 11 Mitgliederinnen gegründet.

1850 Alle bestehenden Frauenvereine müssen in Preußen aufgelöst werden.

1873 Pauline Stegemann gründet den Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenbund.

1878 Im Deutschen Reich werden erstmals Mutterschutzbestimmungen erlassen.

1880 Papst Leo XIII. spricht sich gegen die Gleichberechtigung der Frau aus.
Beim Deutschen Turnfest in Frankfurt am Main dürfen Frauen nur als Spenderinnen des selbstgestickten Bundesbanners agieren.

1891 Als erste deutsche Partei fordert die S.P.D. das Wahlrecht für Frauen.

1896 An den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit dürfen Frauen nicht teilnehmen
.
1900 Im Bürgerlichen Gesetzbuch gilt: Frauen sind weiterhin “eheherrlicher Vormundschaft” unterworfen.
Bei den II. Olympischen Spielen dürfen Frauen zum ersten Mal in bestimmten Disziplinen teilnehmen; die Anzahl der Teilnehmerinnen macht 0,6% der Gesamtzahl aus.

1903 Beim Deutschen Turnfest in Nürnberg verbietet der Deutsche Turnerbund den Frauenvereinen die Teilnahme; ein öffentliches Auftreten der Frauen entspräche nicht den gesellschaftlichen Normen.

1913 Der Arbeiterturner-Bund verzeichnet 13.000 weibliche Mitglieder.

1918 Frauen wird das Wahlrecht im Deutschen Reich gewährt.

1920 An den Deutschen Leichtathletikmeisterschaften in Dresden beteiligen sich erstmals Frauen.

1923 Bei dem Deutschen Turnfest in München gibt es erstmals eine gleichberechtigte Teilnahme von Frauen. 9000 turnen unter Leitung eines – männlichen – Turnwarts.

1928 Bei den IX. Olympischen Spielen in Amsterdam dürfen erstmals Frauen an den Leichtathletikwettbewerben teilnehmen.

1946 Überall überwiegt der Anteil an weiblichen Beschäftigten.

1949 Das Grundgesetz der neugegründeten Bundesrepublik enthält die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau; das gleiche trifft für die DDR zu.

1960 Die Anti-Baby-Pille kommt auf den Markt. Die erste Frau in einem Bundeskabinett heißt Elisabeth Schwarzhaupt.

1964 Der Mini-Rock schockt die Spießbürger.

1965 Der Frauenanteil im Deutschen Turnerbund beträgt erstmalig
mehr als 50 %.