Die Entwicklung der Turnerei

Die Körperkultur, oder, wie man sie später nannte, die Leibesertüchtigung, ist keine Angelegenheit des 19. Jahrhunderts und beginnt nicht mit Turnvater Friedrich Ludwig Jahn.

Der Kampf ums Dasein verlangte vom “homo sapiens” (dem wissenden Menschen) vom Anfang seiner Existenz an, die körperlichen Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln und zu üben.

Die griechische Kultur bringt (auch) die Körperkultur zur Blüte und auf einen Höhepunkt. Die griechische Gymnastik ist das erste durchdachte System der Leibesübungen .

Aus dem Nibelungenlied wissen wir, daß bei den germanischen Völkern der Wettlauf, der Sprung, Stein- und Speerwerfen (Nibelungenlied) ausgeübt wurde; auch im Mittelalter und später wurde dies beibehalten.

Die “Tuniere” waren aber auf den Adel beschränkt. Neben den Kämpfen der Adligen gab es aber auch volkstümliche Spiele und Übungen, mit denen sich Bauern und Bürger vergnügten.

Die Leibesübungen wurden damals “Behendigkeiten” oder “Ergötzlichkeiten” (das Wort “Sport” kommt von neulateinisch “disportare” = sich ergötzen) genannt.

Volksfeste im 16. Jahrhundert hatten noch lebhafte Beziehungen zum Rittertum. Zunftkämpfe, Bauernaufstände und der Dreißigjährige Krieg führten zum Niedergang der Körperkultur.

Erst im Gefolge des Humanismus brachte dann die rationalistische Denkart Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Wertung der Leibesübungen.

Johannes Bernhard Basedow fordert in seinem 1758 erschienen Werk “Praktische Philosophie für alle Stände”, daß Leibesübungen ein fester Bestandteil einer vernünftigen Jugenderziehung sein sollen.

1774 gründert er in Dessau das “Philantropin”, die Geburtsstätte des Philantropismus, der neuen menschenfreundlichen Pädagogik.

Bei den Philantropen wechselten im Unterricht Lehrstunden ab mit Leibesübungen, Spielen und Wandern.

Dessau wurde die Wiege der neuen Gymnastik. Hier wurde erstmals in Deutschland körperliche Erziehung planmäßig betrieben.

Christian Gotthilf Salzmann, der Lehrer in Dessau gewesen war, gründete die Erziehungsanstalt Schnepfenthal (1784) am Rande des Thüringer Waldes.

Hier entwickelte sich die Schulgymnastik weit über die ersten Versuche von Dessau hinaus, hier wurden sie von Johann Christoph Friedrich Gutsmuths in bahnbrechender Weise methodisch behandelt und weiter ausgebildet.

Der Pädagoge Gutsmuths, von Basedow und Jean Jacques Rousseau beeinflußt, wurde 1785 Lehrer an der Schnepfenthaler Anstalt.

1793 gab er die “Gymnastik für die Jugend ” heraus. Mit diesem Buch wurde er zum Wegbereiter der neuzeitlichen schulischen Körpererziehung in Deutschland. Diese Schrift ist das erste moderne, wirklich bedeutende Lehrbuch des Schulturnens.

Gutsmuths Wirken ist durch Jahns “deutsches” Turnen in den Hintergrund gedrängt worden, obwohl Jahn nach dessen Gymnastik auf der Hasenheide zu turnen und zu lehren begann.

Jahn und Eiselen entnahmen dem Buch von Gutsmuths “Über vaterländische Erziehung” zahlreiche Übungsbeispiele und Anregungen für ihren Turnbetrieb.

Das von Jahn und Eiselen gemeinsam verfaßte Werk “Die deutsche Turnkunst” und Jahns “vaterländisch” geprägtes Turnen erwies sich für die anstehenden nationalen Zwecke, insbesondere durch das “Wehrturnen”, als zweckmäßiger und wirksamer.

Gerhard Ulrich Anton Vieth arbeitete parallel zu Gutsmuths für die Anerkennung und Verbreitung einer neuen Körpererziehung.

War Gutsmuths der Praktiker, so war Vieth der erste Systematiker der neuen Gymnastik.

Sein Hauptwerk ist der dreibändige “Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen”, 1794, 1795 und 1818 erschienen.

Aktuell wie eh und je ein Textausschnitt aus dem II. Teil seines Werkes:

“. . . . . aber der unbemittelte Bürger mittlern und niedrigern Standes genießt selten eine solche Erziehung, obgleich sei Körper einer solchen Bildung um so viel mehr bedarf, da ihn seine Lebensart in der Folge vielleicht an Arbeiten fesselt, welche eine beständig einförmige Lage des Körpers erfordern, und daher der Gesundheit und Stärke so nachtheilig werden.
Für diese Menschenklasse, und ist es doch die beträchtlichste, müßte auf Schulen gesorgt werden, und es wäre eine sehr wesentliche und nothwendige Verbesserung, wenn dieß geschähe. Daß es bis jetzt irgendwo geschehen wäre, davon ist mir kein beyspiel bekannt. Unsere Schulen sorgen nur für den Geist
. . . . . . . . “

Die Schulgymnastik der Philantropen war nur auf einen verschwindend kleinen Kreis beschränkt.

Jahn erst machte das Turnen zur Volksbewegung. Die humanistischen Forderungen der Philantropen werden ab 1806 überdeckt durch die Politisierung des Turnens durch Jahn:

– Befreiung von napoleonischer Fremdherrschaft
– Einigung der deutschen Stämme in einem einheitlichen Reich und
– Bildung einer Verfassung, die allen Staatsbürgern gleiche politische Rechte gewährt.

Die Leibesübungen mußten sowohl der Wehrhaftigkeit aller Wehrfähigen als auch der Förderung staatsbürgerlicher Gesinnung (des deutschen Volksbewußtseins), dienen.

Patriotismus, die Idee des Volkstums, des Vaterlandsgedankens mit der Turnbewegung verknüpft zu haben, das ist Jahns herausragendstes Werk.

1834 aber war Jahn schon ein Revolutionär von gestern, ein Turner zur Zeit der “Turnsperre”, ein zwar aus der Haft entlassener, aber von der “Demagogenverfolgung” mundtot gemachter Politiker, ein Turnvater mit Berufsverbot.

Die demokratischen “rothen” Turner verspotteten den Alten “im” Barte und drohten ihm Prügel an.

Die Abordnung zum Parlament der Paulskirche ist als Verbeugung vor seinen unbestrittenen Leistungen für die Turnerei und den Kampf um die deutsche Einheit zu werten.

Eine neue Jahn-Begeisterung bahnte sich in den Gründerjahren an.
1893 kam es zur Gründung des “Arbeiter-Turnerbunds”.
Ein jüdischer Turnverein “Bar Kochba” wurde in Berlin gegründet.

Jahns Definition des “Volksthums” war so wenig eindeutig, daß fast jeder dessen Gedankengut vereinnahmen konnte und einer internationalen Verbreitung nichts im Wege stand.

1825 Übersetzung der “Turnkunst” ins Englische; Übersetzung der Schrift “Deutsches Volksthum” ins Französische.

1933 wurde Jahn von Hitler in einer Schweigeminute (beim 15. DTF in Stuttgart) geehrt.

Damit wurde das Turnen wieder das, was es schon einmal 1813 gewesen war: Wehrertüchtigung und Vorbereitung zum Krieg.

Die DDR gab eine bearbeitete Ausgabe der “Turnkunst” heraus, deren Kapitel über “das Schießen mit dem Feuergewehr” vorzüglich zur Diskussion über die vormilitärische Ausbildung der Jugend passte.
Der ideologische Hintergrund des Turnens wurde zum Selbstbedienungsladen für jedermann.

Den Grundgedanken einer Leibeserziehung im Sinne einer wechselseitigen Egänzung von Kopf und Körper übernahmen Jahn und Eiselen (in der “Dtsch. Turnkunst”) von den Philanthropen, aus dem Geist Rousseaus und Pestalozzis.

Als schriftliche Quellen dienten vor allem Johann Christian Friedrich Guts Muths “Gymnastik für die Jugend” (1793) und Gerhard Ulrich Anton Vieths “Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen” (1794/95).

Aus diesen Büchern stammt ein Großteil der Jahnschen Übungen, darunter auch solche, die -wie Stabhochsprung und Übungen am Pferd- leicht in die militärische Praxis eines Landsturms umzusetzen waren: man mußte nur den “Schwingel” durch ein lebendes Pferd, den Stab durch Gewehr oder Pike ersetzen.

Die “Hasenheide” war ebenfalls von Salzmanns und Guts Muths Schnepfenthal-Turnplatz beeinflußt.

Jahns Dank an Vieth und Guts Muths für diese geistige Vorarbeit fällt dafür aber recht mager aus.

Historische Verdienste Jahns sind:
Er weckte das Volksbewußtsein und war einVorkämpfer für staatliche und gesellschaftliche Einheit.
Er entwickelte das Volksturnen weiter.
Er reinigte die Sprache von Fremdwörtern, er bereicherte sie, er ist ein Befürworter der Mundart.
Er ist einer der Anreger der “Deutschen Burschenschaft”; die Studenten verwendeten zuerst die Farben “Schwarz-Rot-Gold” des Lützowschen Freikorps.

Wie unterschiedlich Jahn auch von der Geschichts- schreibung beurteilt wird (die Palette reicht von haltloser Gehässigkeit bis zur totalen Bewunderung),
man sollte versuchen, ihn aus seiner Zeit heraus zu verstehen.

Im Nachwort zu der Neuauflage seines Buches “Die Deutsche Turnkunst” von 1961 (!) heißt es:
Das hindert uns aber nicht daran, in großer Verehrung zu dem Mann aufzuschauen, der sich nicht wie die große Masse seiner Zeitgenossen mit den Gegebenheiten abfand, sondern in unerhörter Kühnheit bereit war, die ganze Kraft seiner starken Persönlichkeit einzusetzen, um die politischen Grenzen und die sozialen Schranken einzureißen, der zugleich auch den Mut besaß, für eine Sache zu kämpfen, die in seiner Zeit als Utopie betrachtet werden mußte, als Hirngespinst: Deutschlands Einheit und Freiheit .