Nach zwei „stillen Jahren“, in denen das Turnen in Idstein nicht betrieben wurde, traf man sich
1872 von neuem im Saale der Kegelbahn des Kameraden Ruwedel.
Fühlbar machte sich allmählich der Mangel einer Turnhalle;so wurde
1877 ein Hallen-Baufond gegründet, dem man in der Folge jeden ersparten und geschenkten Betrag zuführte.
1887 beginnt der Vorstand Verhandlungen mit der Stadt wegen eines Bauplatzes. Ein geeigneter wird an der Wörsdorfer Chaussee gefunden (jetzt Limburger Straße) und der Turngemeinde Idstein unentgeltlich überlassen mit der Auflage, die Schulen auch dort mitturnen zu lassen.
Der Erwerb größeren Vermögens wie etwa das eines Grundstücks setzte voraus, daß die Turngemeinde die Rechte einer „juristischen Person“ erwarb.
Es wird ein Throngesuch an den Kaiser und an den Justizminister gerichtet, das aber wegen eines Formfehlers der Ablehnung verfällt. Ein Bittgesuch im November
1891 bringt den benötigten Erfolg, sodaß es am 16. Mai
1892 heißt:
„Auf den Bericht vom 9. Mai des Jahres will Ich dem Turnverein zu Idstein aus Grund des zurückfolgenden Statuts vom 12. Juni 1891 hierdurch die Rechte einer juristischen Person verleihen. Danzig, den 16. Mai 1892, gez. Wilhelm R. „
ie oben erwähnten neuen Statuten vom Oktober 1891 zeigen in ihrem §1 den Wechsel des Vereinsnamens:
„In Idstein besteht seit 1844 ein Turnverein, welcher durch geregelte gemeinsame Übungen die möglichst allseitige körperliche Ausbildung, sowie sittliche Förderung seiner Mitglieder und insbesondere die Veredelung der Vaterlands- und Menschenliebe bezweckt. Dieser bisher unter dem Namen Turngemeinde nach Maßgabe der Statuten von 1872 und 1879 verwaltete Verein führt fortan die Bezeichnung Turnverein und hat seinen Sitz in der Stadt Idstein„.
Im Jahr 1892 also begann man den Bau, ohne Grundsteinlegung, wie es in den Protokollen heißt.
Der Grund hieß „Ersparnis“. In der Tat waren 22.000 RM an Baukosten aufzubringen, 8.000 RM kamen (bei 150 Mitgliedern) aus dem Baufonds und den sogenannten „Antheilscheinen“, 12.000 RM stellte ein zinspflichtiges Darlehen bereit.
Zum Wagemut und zum Idealismus der Turner noch eine kurze Hintergrundmitteilung:
„Die schwere Wirtschaftskrise (Anm. :von 1893) hat gravierende Auswirkungen auf die Lage der Bevölkerung. Ein Drittel der Arbeiter ist arbeitslos oder verdient weniger als das Existenzminimum. Die Löhne sind niedrig; pro Woche werden zwischen 9 und 24 RM bezahlt, Frauen verdienen zwischen 3 und 12 Mark. „
Der Bau begann mit Schwierigkeiten. Hierzu (auszugsweise) ein Bericht des Turnbruders Ludwig Kappus (aus einem Vortrag vom 30.11.1934) über das Mißgeschick:
„. . . . und wurde Herr Baumeister Sartorius, Lehrer an der Baugewerkschule beauftragt, einen Plan anzufertigen. Derselbe war gut ausgefallen und wurde alsdann der Errichtung des Baus nähergetreten.
In erster Linie wurde die Baukommission gewählt:
Unter Bürgermeister Leichtfuß als Vorsitzender, Ehrenturnwart Ruwedel, Ludwig Scherer, Friedrich Barthel, Karl Seib, Ludwig Kappus, Karl Bücher, Christian Dietrich (Spitzname „Henner“), Karl Preß und Wilhelm Zehner wurden die Arbeiten an die Geschäftsleute vergeben:
Maurerarbeiten Friedrich Tappe
Zimmerarbeiten Ludwig Kappus
Schlosserarbeiten Friedrich Best und Wilhelm Reichert
Dachdeckerarbeiten Friedrich Barthel
Putzarbeiten Karl Hilbert
Schreinerarbeiten Adolf Fraund und Christian Vietor
Nachdem die Halle vier Wochen im Rohbau gestanden hatte, entstand ein Schaden an den Zugstangen und das Dach drückte infolge schwerer Schneelast die Mauern nach außen.
Zur Wiederherstellung wurden Sprießen und stärkerer Zugstangen angebracht.
Die Arbeiten nahmen eine Zeit von vier Wochen in Anspruch. Die Bestimmung der Zugstangenstärke wurde Direktor Wagener der Baugewerkschule übertragen. Die Stangen wurden unter Aufsicht des Herrn Kleinschmidt eingezogen.
Baumeister Sartorius legte die Bauleitung nieder.
Die Halle wurde unter tatkräftiger Hilfe der Zimmerleute wieder standfähig. . . . . . wurde November 1892 aufgeschlagen. „
Am 11. Juni 1893 ist Einweihung
(„. . das Wetter war sehr günstig, alle Arbeiten sind ohne Unfall verlaufen. „).
Die Hallendecke unter den Zugstangen wurde drei bis vier Jahre später eingelegt.
Einer Besonderheit soll noch Erwähnung getan werden:
Das sogenannte „Tie-Zimmer“ war ebenerdig, links neben dem Flur der Turnhalle, eingerichtet.
Der Name dieses Raums rührt weder von der „tea-time“ der Turner noch von einem verstorbenen Turner „Tiez“ her. Vielmehr war bei Jahn das „Tie“ ein Versammlungsplatz der Turner, von dem aus Nachrichten bekanntgemacht wurden. Beim TV Idstein wurde dieser Raum als Sitzungszimmer, Geräteraum, Bar (!) und Archiv genutzt.
Eine sehr gute Quelle über turnerische Betriebsamkeit eines einzelnen Turners aus diesen Jahren gibt das von Frau Sofie Fried dem TV geschenkte „Turnfahrtenbuch“ (weiter unten das Deckblatt) ihres Schwagers Karl Müller.
Von 1906 bis 1924 verzeichnet es sämtliche von Müller besuchte Turnfeste.
Mit seinen Handzeichnungen, Fotos, Festplaketten, Teilnehmerkarten, Zeitungsausschnitten zu Vereinsaktivitäten und den Siegerlisten ist das Album ein weiteres Unikat, dessen Besitz dem Turnverein Freude und Verpflichtung ist.
1914 findet in der Halle das Kriegs-Ersatz-Geschäft (Aufstellung der Reserve) statt.
Sämtliche Militärpflichtige, über deren Militärverhältnis noch keine endgültige Entscheidung getrofen ist, müssen erscheinen.
Am 4. 10. wird mit der militärischen Vorbildung der Jugend begonnen. Jeden Mittwoch Abend finden in den Turnhallen Turnunterricht und Samstag abends in der Fortbildungsschule theoretischer Unterricht statt.
Im Frühjahr 1915 führt der TV regelmäßige Übungsabende für den nicht ausgebildeten, ausgehobenen Landsturm ein.
Nach dem I. Weltkrieg, am 15. 12.
1918, beschlagnahmten die Franzosen als Besatzermacht die Halle.
1923 zeigen sich auch die Turnvereinsbeiträge inflationär: Der vierteljährliche Beitrag für Schüler beträgt RM 3 000 000, für Erwachsene RM 5 000 000.- !!
1925 – die französischen Soldaten verharren immer noch in der „guten Stube“ der Idsteiner Turner – ist die Platznot so groß, daß der Bau einer zweiten Halle geplant wird; ein Grundstück „Im Hopfenstück“ ist bereits erworben worden.
Im Februar 1925 verlassen die Franzosen Idstein, englische Infanterie rückt ein, um dann am 29. 11. 1926 Idstein zu verlassen. Eine gründliche Erneuerung der Halle erfolgt.
1929 soll vor dem Gebäude ein Ehrenmal für die Gefallenen des „Großen Krieges“ errichtet werden; 1.000.- RM werden bereitgestellt, Entwürfe aus einem Wettbewerb liegen schon vor. Der Plan kommt nicht zur Ausführung.
Im selben Jahr ziehen die Turner wieder ins herausgeputzte Haus ein.
Der Vorstand des TV lehnt am 20. 2. 1932 einen Antrag ab, der NSDAP die Halle zur Verfügung zu stellen. In der Ablehnung heißt es, daß keine Partei die Turnhalle benutzen soll.
Das weitere Schicksal der Turnhalle ist aus dem Kapitel 11 zu entnehmen.