Das Streben nach deutscher Einheit

Das Streben nach deutscher Einheit im 19. Jahrhundert

Turner, vom Kameraden Nabenhauer geführt, der Weihe des Niederwald-denkmals bei Rüdesheim beiwohnte, war wohl keinem Turner mehr so recht bewußt, daß er hier in guter Tradition stand.

Der Besuch der „Germania“, von Johannes Schilling geschaffen, war, wie so vieles im Handeln der Turner des 19. Jahrhunderts, politischer Natur.

Die wehrhafte steinerne Dame in Rüstung, Sinnbild siegreichen Teutonentums, im wilheminischen Reich jedem von Briefmarken her vertraut, war „zum Andenken an die einmütige siegreiche Erhebung des Deutschen Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870/1871“ auf ihren Sockel, gegen Frankreich blickend, gestellt worden.

1815 hatte sich erstmals das Volk einig gefühlt, ohne eine Volksarmee hätten die Fürsten nie über Napoleon gesiegt. Für seinen Heereseinsatz erhoffte man nun seinen verdienten Lohn: Eine Volksvertretung und Pressefreiheit.

Alle Regungen einer längst fälligen Volkssouveränität wurden als staatsgefährdende Umtriebe verfolgt. Die Burschenschaften wurden aufgelöst, deren Farben Schwarz-Rot-Gold wurden verboten, der liberale Moritz von Arndt verlor seine Stellung als Professor.

Der Ruf der Jugend nach einem Nationalstaat war nach 1815 immer deutlicher zu hören und führte schließlich zur Bildung des ersten deutschen demokratischen Parlamentes in der Paulskirche zu Frankfurt am Main.

Die nachfolgend geschilderten Ereignisse bis 1848 wurden wegen ihres Bezugs zur Region oder zur Turnerei ausgewählt.

1814 Die Arndtsche Idee der „Deutschen Gesellschaft“ kommt von Gießen (Alexander Friedrich Ludwig Weidig, Karl Follen und die Gebrüder Snell) nach Idstein; dort wird die Gesellschaft aber schon 1815 wieder aufgelöst.

1819 Am 23. März wird der russische Staatsrat Kotzebue von dem Studenten Carl Ludwig Sand ermordet. Sand gehörte dem „Bund der Unbedingten“ an; äußere Merkmale dieser radikalen Demokraten waren lange Haare und wallende Bärte. Als Idole wurden Ernst Moritz Arndt und Turnvater Jahn verehrt.

Am 1. Juli unternimmt der junge Idsteiner Apotheker Karl Löning, Mitglied einer „Deutschen Gesellschaft“, in Bad Schwalbach einen Mordanschlag auf den nassauischen Regierungspräsidenten Karl Ibell. Löning stirbt am 18. August in Wiesbaden an verschluckten Glassplittern und anschließendem Hungerstreik.

Im Oktober werden in Nassau die „Karlsbader Beschlüsse“ bekanntgemacht, die unter anderem zur sogenannten „Ersten Turnsperre“ führten.

Diese freiheitlichen Ideen der Französichen Revolution zog man der Pedanterie der einheimischen Kabinette vor. In Mainz hatte die Bevölkerung unter der französichen. Besatzung (1792-1814) schon einmal Freiheitliches verspürt, waren dort doch aus Untertanen Bürger eines Départements geworden.

Hinzu kam, daß in Süddeutschland die Länder am Rhein, Main und Neckar durch damals fortschrittliche Verkehrserschließung (Eisenbahn und Dampfschiffahrt) -aller Kleinstaaterei zum Trotz- schon längst zu einem Großraum zusammengewachsen waren. Die geistige, geschichtliche und geographische Nähe zur Schweiz förderte das Verlangen nach mehr Freiheit.

Stattdessen veranlaßten die gegen die „Demagogen“ gerichteten Beschlüsse (Metternichs „Karlsbader Beschlüsse“, die dieser auch Preußen diktierte) die Vorzensur und die politische Überwachung der Universitäten.

1820 Ludwig Snell, Konrektor am Gymnasium zu Idstein, wird im Zug der Demagogenverfolgung verhaftet; er siedelt 1827 in die Schweiz über , verficht dort weiter liberaldemokratische Ideen.

Zwei Meldungen zum „Zeitgeist“:
1826   Wegen Pferdediebstahls wird im Amt Meinersen (Hannover) die letzte Folter in Deutschland durchgeführt.
1828   Die „Kölnische Zeitung“ schreibt am 23. 4. zur Gasbeleuchtung: „. . . . es sei (aus theologischen Gründen) unzulässig, die von Gott dunkel geschaffene Nacht zu erhellen. „

1830 Im Juli wird in Paris revoltiert, die Bourbonen werden abgesetzt, es wird eine freisinnige Verfassung eingeführt. Im Herzogtum Nassau herrscht Unruhe.

Der Theologiestudent Christian Reichard Hildebrand gibt vor der Mainzer “Zentraluntersuchungs- kommission für Demagogenverfolgung” an, seine radikaldemokratischen Weisungen von den Gebrüdern Snell aus Idstein und von Karl Follen aus Gießen erhalten zu haben; diese waren allerdings zum Zeitpunkt der Vernehmung schon in die Schweiz emigriert.

1833 Am 3. April wird die Frankfurter Hauptwache gestürmt. Weidig, Lehrer, Pfarrer und Turner zu Butzbach, wird als Mitwisser verhaftet, man kann ihm aber nichts nachweisen. Nach seiner 2. Verhaftung, im April 1835, wird er so drangsaliert, daß er in seiner Zelle Selbstmord begeht (siehe Personalia).

1847 In Bad Schwalbach heißt es in einem Aufruf:
“Es ist eine Ehre, Lumpen zu tragen und Proletarier zu sein.
Macht euch dieser Ehre wert, und wenn die Zeit kommt, schlagt zu“.

1848 Die Märzrevolution läßt im Herzogtum Nassau am Zweiten des Monats in Wiesbaden 4000 Leute zusammenkommen. Die von Hergenhahn verlesenen Forderungen der Nassauer werden in Abwesenheit des Herzogs gebilligt, Staatsminister Freiherr von Dungern gewährt Volksbewaffnung und Pressefreiheit.

Am 4. 3. – der Herzog ist immer noch nicht in seiner Residenz – sind die mittlerweile 40.000 (!) Unzufriedenen sehr unruhig, was, da sehr viele mit Sensen, Flegeln und Äxten bewaffnet sind, sich zur Bedrohung auswirkt. Endlich, um 15. 30 Uhr erscheint der Herzog, bestätigt von Dungern, verspricht, die Forderungen zu halten.
Doch höhere Politik läßt das Erreichte vergessen.

1849 Der „Idsteiner Kongress“ findet in der Unionskirche statt. Demokraten aus ganz Nassau hatten sich versammelt, um ihre Forderungen an den Herzog zu formulieren.

1850 Der Hochverratsprozess gegen zehn führende Teilnehmer des demokratischen „Idsteiner Kongresses“ endet mit dem Freispruch aller.

Der Sozialdemokrat 
Schapper aus Weinbach bei Rod an der Weil bekommt Stadtverbot in Wiesbaden.
Beim Auszug aus Wiesbaden bedankt er sich bei den Frauen und Jungfrauen Idsteins für deren Hilfe während seines Gefängnisaufenthaltes.

Diese Ereignisse – „Karlsbader Beschlüsse“, Französiche Julirevolution, Märzrevolution, Restauration und (ab 1859) das Wiederherstellen der revolutionären Errungenschaften – haben das nassauische Volk sehr berührt.

Heute, mehr als 140 Jahre nach dem „Marsch auf Wiesbaden“, ist dieser als Symbol des Aufbegehrens gegen die Obrigkeit manchem in der Bevölkerung noch lebendig.