Über die Jahre 1941 bis 1947 liegt der Bericht eines Zeitzeugen vor: ab Februar 1941 gehörte zu den Aufgaben des Angestellten der Stadt Idstein Ernst Battenfeld die Verwaltungsarbeit des städtischen Krankenhauses, soweit es sich nicht um Personalangelegenheiten handelte. Die Zeit umfaßte vier Jahre und drei Monate des Zweiten Weltkrieges, sein Ende und den Neuanfang. Er notierte im Januar 1977 seine Erinnerungen, die zwar subjektiv, doch durchaus aufschlußreich sind:
„Das Krankenhaus wurde als Beleghaus geführt; die zur Verfügung stehenden 20 Betten waren nicht immer voll belegt. Als Personal waren vorhanden: Oberschwester Ella Ingerfurth (keine der NS!), Schwester Ilse Pfefferling, Hilfsschwester Doris Burkhard, ein oder zwei Küchenmädchen und ein Hausbursche, Zögling des Kalmenhofes, hier bekannt als Wilhelm, später ein Hausmeister, zugleich Pfleger. Schwester Ella war Oberschwester, Narkoseschwester, Operationsschwester, Küchenchefin, Schreibkraft usw., alles in einer Person. Ging etwas schief, ließ sie den Unwillen an Schwester Ilse aus, die gab es weiter an Schwester Doris, und die hatte nur die Möglichkeit, das Küchenmädchen oder Wilhelm zu rügen.
Sehr viel mußte in den letzten Kriegsjahren und in der Zeit bis zur Währungsreform (20. Juni 1948) improvisiert werden; hierin und im „Organisieren“ war die Oberschwester eine Meisterin. Sie kannte, wenn es darum ging, das Notwendige zu organisieren, keine Hemmungen. Manchmal bekam ich regelrecht Angst, wenn die regelmäßige Meldungen über die Belegung des Hauses für die Zusendungen der Lebensmittelmarken vom Landratsamt gemacht wurden Schwester Ella gab immer an: „Alles voll belegt“.
Zum Krankenhaus gehörte ein Nutzgarten, in dem Erdbeeren, Johannisbeeren usw. geerntet wurden. Die Gartenarbeit oblag hauptsächlich Wilhelm, und es wurden Früchte eingemacht und Gelee gekocht. Schwester Ella stellte einen bei den Patienten sehr beliebten vorzüglichen Kochkäse her. Die (Mager-) Milch erhielt sie von Erich Haub (Anwesen Schanze, Heftricher Straße), einem landwirtschaftlichen Betrieb, der wegen seiner Verkehrslage keine Milch abzugeben brauchte, sondern den Rahm selbst zu Butter verarbeitete.
So bereicherte man den Küchenzettel, und mancher Patient wunderte sich über das trotz Kriegsbewirtschaftung reichhaltige Essen. Auch erstklassiger Likör wurde aus Beeren angesetzt; der war allerdings nicht für die Patienten. Bei den Meldungen über immer volle Belegung war auch der Verbrauch an reinem Alkohol „für inneren Gebrauch“, den es auf Bezugscheine gab, entsprechend hoch. Ich hoffe nicht, daß auch das Ansetzen von Früchten mittels Alkohol oder Branntwein zum inneren Gebrauch gehört hat.
Die Vorratswirtschaft war eine Sache für sich. Eines Tages ruft mich die Oberschwester an: „Wir müssen das Krankenhaus schließen“, sagt sie. Meine Frage: „Warum?“ Antwort: „Der Koks für die Heizung reicht nur noch wenige Tage“. Es hätte keinen Zweck gehabt zu fragen, warum die Meldung nicht früher erfolgt wäre. Also Bezugschein beantragen, möglichst telefonisch; eine schwierige Aufgabe, weil man oft stundenlang versuchen mußte, eine freie Leitung nach Wiesbaden zur Bezugscheinstelle zu erhaschen. Der Koks kam per Bahn, wurde von einem Bauern mit Pferdefuhrwerk entladen, zum Krankenhaus gefahren und hinter dem Haus vor dem Kokskeller abgeladen. Acht Tage später kam ich in das Krankenhaus; der Koks lag noch immer vor dem Keller. Schwester Ella war nicht anwesend, so fragte ich Schwester Ilse, warum der Koks noch immer draußen liegt. Wenn Wilhelm ihn nicht alleine einfüllen könnte, würde ich einen städtischen Arbeiter helfen lassen. Antwort von Schwester Ilse: „Der Keller ist ja voll Koks“. Ich erinnere mich auch heute noch an die großen Ballen Leinenstoff, die noch vorhanden waren, als das Haus im Juni 1951 dem Kreis übergeben wurde.
Das Leben im Krankenhaus war eher beschaulich als hektisch. Es gab keine Verkehrsunfälle auf der Autobahn und den Straßen. Die meisten Krankenhausbehandlungen konnten eingeplant werden. Trotzdem waren die Schwestern und Chirurg Dr. Paul Cohaus, bedingt durch die erschwerten Arbeitsbedingungen in der Kriegszeit, manchmal überfordert. So konnte ich an einem Tag von Schwester Ella am Telefon keine Auskunft über eigene Angelegenheiten bekommen. Warum? „Oh“, sagte sie, „bitte heute nicht, ich bin fix und fertig. Wir hatten eine Blinddarmoperation, und Dr. Cohaus ist vor der Beendigung zusammengebrochen. Ich habe den Bauch zunähen müssen“. Ich habe Dr. Cohaus in Erinnerung als einen Mann, der seine Tätigkeit nicht nur als Beruf, sondern als Berufung verstand. Morgens das Wartezimmer voll Patienten, mittags Krankenbesuche und noch Operationen im Krankenhaus. Man darf sich also nicht wundern, wenn er auch einmal unwirsch wurde.
Die Männer waren im Krieg, und was taten manche Frauen, deren Freundschaft mit einem Soldat aus den beiden Lazaretten (im Schloß und im Kalmenhof) nicht ohne Folgen blieb? Man verzeihe mir, daß ich das traurige Thema einen Fastnachtshumoristen erklären lasse. In der ersten Fastnachtsveranstaltung nach dem Krieg sagte ein Wörsdorfer Büttenredner am Ende seines Vortrags: „…es gab kaa Zwilling un kaa Drilling, sie woarn beim Wunnerdockter…..!“ Den Namen, der sich auf Drilling reimte, verschwieg der Humorist, so will ich ihn auch nicht nennen, aber der ganze Saal brüllte ihn laut heraus. Die meisten Patienten des „Wunderdoktors“ mußten dann von Dr. Cohaus im Krankenhaus behandelt werden. Auf die Karteikarte, die auch für die Abrechnung diente, hatte Schwester Ella dann eingetragen „Blutungen, Abrasio“. Man nahm es damals mit Geheimhaltung nicht so genau; das Wort „Datenschutz“ kannte man nicht.
Von größeren Pannen hatte ich keine Kenntnis; mein Büro war ja im Rathaus, aber einmal wurde ich beim Gang ins Krankenhaus Zeuge einer großen Aufregung. Eine weinende Schwester Doris mußte ein Donnerwetter über sich ergehen lassen. Ein kleiner Junge war am Blinddarm operiert worden. Sie hatte eine Wärmflasche in das Bett gelegt. Schwester Ilse wußte es nicht und brachte den Jungen ins Bett. Als er beim Aufwachen schrie, merkte man, daß er sich die Zehen verbrannt hatte.
Als die Amerikaner am 28. März 1945 in Idstein einrückten (70), traf eine Granate zum Glück nicht das Krankenhaus, sondern nur ein Nebengebäude, das leer stand. Soweit ich mich entsinne, gab es in Idstein zu dieser Zeit vier Kassenärzte: Dr. Paul Cohaus, Dr. Albert Weber, Dr. Kuno Graebe und Frau Dr. Martha Merz. Dr. Weber war zugleich im Reservelazarett Kalmenhof tätig, so daß er erst nach dem Krieg seine Privatpraxis voll versehen konnte. Als Belegarzt trat fast ausschließlich Dr. Cohaus in Erscheinung, der auch das Amt des Chefarztes ausübte. Gelegentlich belegte auch Dr. Allmann, Praxis in Reichenbach/Tenne, einige Betten.
Größere Operationen konnten im städtischen Krankenhaus nicht vorgenommen werden, schon deshalb nicht, weil Dr. Cohaus der einzige Chirurg war. Bei den chirurgischen Fällen handelte es sich größtenteils um Knochenbrüche, Blinddarmoperationen und Blutungen. Patienten, die im Idsteiner Krankenhaus eingeliefert und stationär behandelt wurden, konnten trotz der geringen Bettenzahl unter drei Klassen wählen. Die Pflegesätze pro Tag waren für AOK Idstein 3,60 RM, für alle anderen Krankenkassen 4,50 RM und Privatpatienten 7,00 RM in der 3. Pflegekasse. Privatpatienten zahlten in der 2. Klasse 9,00 RM und in der 1. Klasse 12,00 RM. Für die Krankenkassen galt der Pflegesatz (Mehrbettzimmer) einschließlich Nebenkosten wie Verbände, Medikamente usw., lediglich Röntgenaufnahmen wurden gesondert berechnet.
Die Ärzte rechneten selbst mit der Kassenärztlichen Vereinigung ab. Ob die Stadt bei diesen Pflegesätzen erhebliche Zuschüsse leisten mußte, ist mir nicht bekannt. Wirtschaftlichkeitsberechnungen wurden im Kriege nicht aufgestellt, und Mangel bestand nicht an Reichsmark, sondern höchstens an Bezugsscheinen für alles mögliche. Außerdem betrachtete Schwester Ella das Krankenhaus als ,ihr Haus‘ und sorgte auf ihre Art für entsprechende Einnahmen. Ein Beispiel: Pflegesatz für die 3. Klasse 7.00 RM. Die Abrechnung gegenüber der AOK war wie folgt: 1 Tag Aufenthalt in der 2. Klasse 9.00 RM, Verbände 20 RM, Arzneien 15 RM, insgesamt 44.00 anstatt 3.60 RM. Bei den Röntgenaufnahmen verfuhr Schwester Ella folgendermaßen: Wurde z.B. ein Daumen einmal von oben und einmal von der Seite geröntgt, so machte sie auf einer Platte entsprechender Größe beide Aufnahmen; für die Abrechnung schrieb sie allerdings zwei Aufnahmen der entsprechenden Größe auf.
Durch die Initiative der Schwestern und dadurch, daß die Oberschwester in der Annahme von Geschenken in Form von Lebensmitteln durch Patienten, die diese gut entbehren konnten, nicht wählerisch war, wurde die schlechte Zeit bis zur Währungsreform (70), zumindest was die Verpflegung anbelangte, gut überstanden. Dr. Cohaus und Schwester Ella brachten das Haus gut durch die Kriegsjahre.
Nach Kriegsende gab es dann eine Krankenhauskommission. In diesem Ausschuß redeten auch Leute mit, die, ich weiß nicht aus welchem Grund, nicht gut zu sprechen waren auf Dr. Cohaus und Schwester Ella, sich aber als große Experten fühlten. Wollen wir diese Zeiten übersehen und froh sein, daß nach den ersten Kommunalwahlen nach dem Krieg (im Januar 1946, 70) diese Leute aus den Ausschüssen verschwanden und wieder normale Zeiten eintraten. Allerdings konnten Dr. Cohaus und Schwester Ella jetzt nicht mehr unkompliziert, problemlos und auch etwas autoritär schalten und walten“.
So weit der Bericht von Ernst Battenfeld, im Januar 1977 auf Anregung von Dr. Achenbach geschrieben. Der Bericht ist nicht nur interessant zu lesen, sondern auch deshalb von Bedeutung, weil die Heimatpresse mit der Dauer des Krieges immer weniger Platz für lokale Meldungen und Berichte hatte, und weil nach Einmarsch der US-Truppen alle Zeitungen sofort verboten wurden. Damit versiegte zunächst die wichtige Informationsquelle zur Erkundung von Fakten, Namen und Daten des lokalen Geschehens.