Fortschrittliche Stadt Idstein

Nach den vielen Bemühungen um ein Kankenhaus Ende des 19. Jahrhunderts blieb es 1900 merkwürdig still um das Thema, obwohl der 6. August 1900 der für das Projekt entscheidende Tag war. An diesem Tag erfolgte „die allerhöchste Genehmigung Sr. Majestät des Königs… zur Aufhebung des dahier bestehenden Hospitalfonds und Überweisung des Stiftvermögens auf die Stadtgemeinde Idstein zum Zwecke der Erbauung und Unterhaltung eines neuen Krankenhauses“, wie Bürgermeister Leichtfuß am 12. Oktober 1900 der Hospital-Commission mitteilte (35). Erst am 2. November 1900 unterrichtete er auch die Stadtverordneten, denen er „nach kurzer Debatte“ zusagte, „in der nächsten Sitzung dieserhalb eine Vorlage zu machen“.

Die Idsteiner Stadtväter konnten nach diesem Erfolg ihrer langjährigen Bemühungen allen Grund haben, auf ihre Fortschrittlichkeit stolz zu sein – wenn sie damals die aktuelle Statistik gekannt hätten! Nach Angaben des Statistischen Amtes von 1904 (40) gab es im  Jahre 1900 in den rund 79.000 Ortschaften im Deutschen Reich erst 3146 Krankenhäuser, und von diesen hatten nur 984 kommunaler Träger! Leider ist in der Statistik die Einwohnerzahl dieser Kommunen nicht aufgeschlüsselt; Idstein hatte gerade erst am 27. Oktober 1899 die Zahl von 3000 erreicht und kam auf 3064 am 1. Dezember 1900.

Mehr noch: In der Bemühung, eine zeitgemäße Patientenversorgung zu gewährleisten, wurde bereits beim Bau des neuen Krankenhauses ein Operationsraum eingerichtet, was zu jener Zeit noch eine Ausnahme war. Erst ein Jahrzehnt später hieß es in einer Operationslehre von Gulecke, auch in den kleinsten Krankenhäusern sei „jetzt, wo die Bedingungen für einen ungestörten Wundverlauf  bekannt sind, ein besonderer Operationsraum unentbehrlich“.

Das frühe Beginnen, ein städtisches Krankenhaus zu erbauen und beispielhaft einzurichten, reiht sich in weitere Projekte ein, durch die Idstein zu den fortschrittlichen Kommunen zählte. Erwähnt seien der bereits 1860 erfolgte Aufbau des genossenschaftlichen Vorschuss-Vereins Idstein, heute vr-bank Untertaunus, als es im gesamten Reich erst achtzig derartige Kreditvereine gab (41), ferner die Eröffnung der Baugewerkschule 1869 als vierte in Preußen und erste im südlichen Teil des preußischen Staates, die Gründung der Freiwilligen Feuerwehr 1876 als zweitälteste im Untertaunuskreis, 1898 die Eröffnung der Electricitäts-Centrale, als erst 411 der 3073 Städte von 2.000 bis 50.000 Einwohnern im Deutschen Reich eine „electrische Installation“ hatten (42), vom flachen Land gar nicht zu reden, oder 1896 Planung zentraler Wasserversorgung und 1898 Bau der Hochdruckwasserleitung sowie Kanalisation.Was letzteres für die Gesundheit bedeutet, belegt die erwähnte Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg: Das benachbarte Altona, das über eine bessere Wasserversorgung als Hamburg verfügte, blieb von der Seuche verschont (18)!

Nur dreimal war im gesamten Jahr 1900 in der Idsteiner Zeitung etwas vom Krankenhaus zu lesen: am 5. April im Bericht der Stadtverwaltung über die Gemeinde-Angelegenheiten (43), am 12. Oktober bei der erwähnten Mitteilung an die Stadtverordneten und am 4. Dezember zur Wahl der Kommission zur Erbauung des Krankenhauses. Im Bericht für das Rechnungsjahr 1899/1900, übrigens dem ersten der alljährlich abgelegten Rechenschaften über die Situation der Stadt, in dem vom Krankenhaus zu lesen war, hieß es, der Regierungspräsident habe um ein Inventar des Hospitalvermögens ersucht, um beim Minister des Inneren die Überweisung an die Stadt zu erwirken: „Ist dieses erfolgt, dann dürfte der Frage des Neubaues näher getreten werden“.

Die „Überweisung“ erfolgte am 29. Januar 1901 in einer gemeinsamen Sitzung von Hospital-Commission und Magistrat. Gemäß Beschluß der Commission vom 8. Januar des gleichen Jahres (35) wurden „sämmtliche Werthpapiere mit Zinsscheinen, der Baarvorrath, das Imobilion, Utensilien und Instrumentalium des Hospitals an den Magistrat der Stadt bezw. die Stadtkasse abgeliefert“. Den Empfang bescheinigten Magistrat und Stadtrechner Greuling. Der „altehrwürdige Hospitalfonds, zu dessen Kapitalstock zahlreiche Bürger aus Idstein und auch aus der Umgebung über Jahrhunderte durch kleinere und größere Spenden, Vermächtnisse, Kollekten, Sammlungen und auch durch Zinszahlung für ausgeliehenes Kapital beigetragen hatten, war nunmehr Eigentum der Stadt“ (10).

Der Übergang dieser, fast ”Stiftungskapital” zu nennenden Finanzen, an denen wohl viele Bürger so etwas wie persönliche Eigentumsrechte zu haben glaubten, in die anonyme Kapital-Ansammlung der Stadt fand nicht bei allen Bürgern ungeteilten Beifall. Dies belegt die Bemerkung, die Dekan Emil Dörr im Bericht über seine Idsteiner Amtszeit (1896 bis 1910), den er für die ev. Pfarrchronik schrieb, eingefügt hat (38): ,Das neue Krankenhaus… wurde gebaut. Darüber habe ich manchen Tadel erhalten, weil wir unser Eigentumsrecht an dem Hospitalfonds nicht gewahrt hätten. Man lese ruhig in dieser Chronik nach, wie das Hospital durch die Tätigkeit Langes entstanden ist, so fragt es sich (doch), ob ein zivilrechtlicher Anspruch der Kirchengemeinde Idstein (an den Hospitalfonds) daraus abgeleitet werden kann. Hätte wirklich die Kirchengemeinde mit den ca. 27.000 Mark bauen können, denn ein neues Hospital mußte erbaut werden. Die Kirchengemeinde wäre für ein halbes Jahrhundert in schwere Schulden gestürzt worden‘.

Die öffentlich oder auch halböffentlich gegenüber Pfarrer und ev. Kirchenvorstand erhobenen Vorwürfe führten dazu, daß der ev. Kirchenvorstand auf seiner Sitzung am 14. September 1903 beschloß (10), auf Grund der Eintragungen in der ev. Pfarrchronik, in der Idsteiner Zeitung die Entstehung unseres jetzt städtischen Hospitalfonds klar zu legen‘. Der aufklärende Artikel erschien am 25. September 1903 (9) und hat offenbar die aufgewühlten Gemüter beruhigt“