Seuchen suchen Idstein heim

Wohlbegründet meint Dr. Schmidt, das Haus für Leprakranke habe wahrscheinlich vor der Stadt gestanden. Zwar gibt es dafür keine lokalen Belege, wohl aber vielerorts Vergleichbares. Im 13. Jahrhundert erfaßten die gefährlichen Infektionskrankheiten Lepra, Pocken und Pest die mittelalterlichen Städte und übten in der Folgezeit ihr Schreckensregiment aus; Lepra bis ins 17., Pest und Pocken bis ins 18. Jahrhundert. Eine letzte große Cholera-Epidemie mit über achttausend Toten suchte Hamburg noch 1892 heim.

Daß Lepra als “Aussatz” bezeichnet wurde und bis ins 13. Jahrhundert in Deutschland überhaupt nur unter dieser Bezeichnung bekannt war, ist darin begründet, daß die mit der ansteckenden Krankheit behafteten Menschen von der Gesellschaft “ausgesetzt” waren, im Mittelalter vor der Stadt wohnen mußten, nach heutigem Begriff in “Isolierbaracken” untergebracht waren. Barmherzige, “gute Leute” übernahmen die Pflege; noch heute kündet in Frankfurt die “Gutleutstraße” von jener Zeit.

Daß in Idstein auch Pestkranke aus der Stadt getrieben wurden und keine “guten Leute” vorfanden, berichtet Max Ziemer in “Stammfolgen Idsteiner Familien” (12): Aus der Ehe des Ratsverwandten und zeitweiligen Schultheißen Johann Heinrich Münster mit Maria Margaretha Schott, einer Enkelin des schon genannten Superintendenten Anton Weber, gingen acht Kinder hervor. Die älteste Tochter heiratete 18jährig den aus Butzbach zugewanderten Metzger Heß. “Die übrigen sieben wurden im Mai 1666 den Eltern durch eine furchtbare Krankheit entrissen”. Nach dem Tod der beiden ersten “entstand in der Stadt ein groß Geschrei, und man trieb die ganze Famliie zum Tore hinaus. Sie nahm ihre Zuflucht in dem leerstehenden Zollhaus bei Wolfsbach, wo die letzten fünf Kinder kurz nacheinander der Pest erlagen und vom Vater eigenhändig auf dem Friedhof daselbst eingescharrt werden mußten”. Ebenso erging es schon 1612 dem Bierbrauer Johann Scharlier: Nach dem Pesttod von Knecht und zwei Töchtern “mußte die Familie Idstein räumen” und verlor in Bacherach auch seine letzten drei Kinder.

Bis ins Mittelalter bezeichnete allerdings der Volksmund jede bösartige, ansteckende Krankheit als “Pest”, so daß die Berichte über Pest-Epedemien in Idstein (7) 1581-85, (13) 1598, 1607, 1611, insbesondere 1626, im Dreißigjährigen Krieg (1618 – 48), wo sie in nur zwei Monaten 57 Opfer forderte, und erneut 1666, möglicherweise zum Teil auch andere Krankheiten betreffen. Es fällt auf, daß zwar von Pest und Pocken (14), letztere 1595, 1601, 1610 und 1620/21 (da “raffte sie 18 Kinder dahin”) die Rede ist, jedoch nicht von Lepra oder Aussatz mit oft jahrelanger Inkubationszeit, während mit “sundersiechen” (Sondersie- chen) die Leprakranken bezeichnet wurden. Zum anderen läßt der Begriff “pestilenzialisches Fieber”, welches überdies anscheinend durch “Ferndiagnose” erkannt wurde, im bereits zitierten Eintrag von Anton Weber in der Synodalchronik (7) auf eine gewisse begriffliche Unsicherheit schließen.

Das läßt auch die Fortsetzung des Eintrags vermuten: “Diese Krankheit nahm zu vom Jahr 1581 bis 1585 und verwandelte sich in die abscheuliche Krankheit der Pestilenz, welche in der Zeit zu Idstein regierte und nicht aus dem Flecken kam. Sie grassierte also, daß die Obrigkeit den anderen Dörfern und Nachbarschaften verbot, gen Idstein zu wandeln, und den Idsteinern, aus der Stadt herauszugehen”. Stutzig machen die Worte “verwandelte sich”, als ob es sich um zwei verschiedene Krankheiten handelte. Schließlich “trieb im August 1596” auch noch “die rote Ruhr ihr Unwesen in Idstein und holte sich etwa 16 Opfer. Im Sommer 1599 drang diese tückische Krankheit in das Schloß ein” und forderte auch dort Opfer. 1625 machte sich die rote Ruhr erneut bemerkbar (15).

Aufschlußreiche Zeichen der Zeit finden sich in der Heimatschau (16): 1583 befaßte sich Pfarrer Adam Durffendal aus Strinz-Margarethä mit der Frage, ob ein Christ vor der Pest fliehen dürfe, und verneinte sie. 1586 behandelte Pfarrer Johann Venator aus Esch das Thema, ob man “Segen sprechen” dürfe, “wenn Krankheit und Feuer, tolle Hunde und Wölfe Mensch und Vieh bedrohen”. Die mangelnde Krankenpflege zeigt Max Ziemer (13) am konkreten Fall auf: “Den 18. 11. 1625 starb… Hans Conrad Bund, ein Jüngling”. Er “hatte vor 8 Tagen im Wald mit einer Axt sich in den Fuß gehauen und war (wie etliche davor halten) vom Balbierer verwahrlost worden, so daß der kalte Brand dazu geschlagen und er das Leben darüber einbüßen müssen. Gott… behüte uns alle vor solchen erbärmlichen Fällen”.

Die Entstehungsursachen der Seuchen waren zu jener Zeit nicht bekannt. Selbst für die Ärzte war die Pest lange Zeit ein “düsteres Geheimnis”. Abergläubische Vorstellungen beherrschten die öffentliche Meinung. Der Zusammenhang “epidemisch auftretender Krankheiten” mit den “Hexenprozessen” wird auch im Buch über die Hexenprozesse am Beispiel Idstein “Den Hexen auf der Spur…” (17) aufgezeigt. Man erkannte nicht, daß der Grund in den schlechten hygienischen Verhältnissen lag. In den verschmutzten, engen Städten und Dörfern des Mittelalters waren Tod und Krankheiten alltäglich. Eine eindrucksvolle Schilderung steht im Buch “Menschen in ihrer Zeit” (18):

“Bei einem Gang durch die Stadt mußten sich die Bürger vorsehen, denn der Schmutz war erschreckend. Die Menschen schütteten ihre Abfälle und ihr Abwasser einfach auf die Straße, wo es von Ratten und Fliegen wimmelte. Schweine stöberten in dem stinkenden Morast herum, und Pferde und Hunde ließen ihren Kot ungehindert fallen. Auch die Menschen verrichteten häufig ihre Notdurft auf den Straßen. Aufgrund dieser unhygienischen Verhältnisse waren die mittelalterlichen Städte eine ideale Brutstätte für ansteckende Kankheiten wie Pest und Cholera.”

Im Schulfunkheft des Hessischen Rundfunks heißt es dazu (19): “Innerhalb der Festungsmauern wurde das eng begrenzte Stadtinnere sehr dicht bebaut, so daß in den engen Gassen die kleinen Wohnungen von Licht, Luft und Sonne abgesperrt waren. Die Versorgung mit Trinkwasser geschah durch Ziehbrunnen, die oft verunreinigt waren, was zu Seuchen und ansteckenden Krankheiten führte.”

Zur Idsteiner Situation ist im Idstein-Buch (20) für die Zeit nach 1410 zu lesen: “Das ,bürgerliche’ Stadtgebiet innerhalb der Mauer war nur etwa viermal so groß wie der bebaute Burgbezirk; davon wurde noch ein beträchtlicher Teil von Kirche und Friedhof um die Kirche eingenommen, weitere Gebäude und Flächen gehörten zum Stift, dem späteren Gymnasium. Auf dieser relativ kleinen Fläche gab es aber vergleichsweise viele Gebäude”. Bei dem engen Zusammenleben und den unhygienischen Verhältnissen verwundert es nicht, daß die 1625/26 “durch Kriegsvölker eingeschleppte Pest” (21) “auf eine Schrecken erregende Weise wütete” und in Idstein allein 1626 die erwähnten 57 Opfer forderte.

Es sei angemerkt, daß im Heimatgebiet nicht allein Idstein von der Pest betroffen war. 1666, als sie hier erneut ausbrach, wütete sie zum Beispiel auch in Flörsheim, wo noch heute der “Verlobte Tag” als feierlicher Bittgang zur Abwendung der Heimsuchung begangen wird, in Sindlingen, Zeilsheim, Fischbach  und anderenorts. Aus der Angst vor den Seuchen sind auch die Strafen in der “Idsteinischen Gassenreinigungsordnung” von 1673 (22) gut zu verstehen sowie die drastische Maßnahme im Stadtgerichtsprotokoll von 1708 (23): Man soll “demjenigen, so nicht alle Wochen vor der Tür butzen lasse, gewisse Mann” bestellen, “so den ganzen Kot aufschöpfen und dem Mann in die Stube zum Fenster hineinwerfen sollten”.

Es sei weiter angemerkt, daß der von Max Ziemer (24) aufgezeigte Einwohnerschwund im Dorf Gassenbach von 47 Familien im Jahr 1442 auf acht Haushaltungen 1495 und der nach gleicher Quelle 1481 erfolgte “Todesstoß für Wolfsbach” zwar möglicherweise auf die Pest oder eine andere Seuche zurückzuführen ist, doch das ist umstritten. Friedrich Wilhelm Schwarz führt im Heimatjahrbuch (25) das Beispiel Idstein an, um seine abwägende Feststellung über ausgegangene Ortschaften (Wüstungen) zu belegen:

Die Ursache des Untergangs von “40 bis 50 wüstgewordener Wohnplätze” im Untertaunus, allein vierzehn im Bereich des heutigen Gesamt-Idstein, “ist gar nicht so einfach anzugeben, wie man früher glaubte. Man dachte meist an Kriege, Brände, Wassermangel und Seuchen wie die Pest. Sicher spielen diese Punkte auch eine Rolle, aber noch wichtiger dürften die festen Mauern der Städte gewesen sein, hinter denen der Landbewohner sich geschützt sah. Es ist sicher kein Zufall, daß um viele Städte ein Kranz wüster Orte und Höfe festzustellen ist.”